Stephanie Hentschel
Helle Jetzig Top View
Wolkenkratzer, Sakralbauten, Straßen, Plakatwände, Brücken, Häfen und Plätze eingehüllt in kräftig leuchtende, fast grelle Farben, partiell überdeckt von Punkten, figurativen Bildelementen oder Schriftzügen. Einige der Orte erscheinen durch eigene Reisen oder Städtebesuche bekannt und doch wirkt die Szenerie fremd. Man ist geneigt sich die Augen zu reiben, um das Gesehene besser erfassen zu können. Doch die Punkte und Farben verschwinden nicht und auch die Gebäude ordnen sich nicht in ihre gewohnte Ansicht. Dennoch versucht unser Auge unmittelbar das Bildgeschehen zu erfassen. Es ist geübt darin lineare Strukturen und Regelmäßigkeiten ausfindig zu machen, Stimmungen wahrzunehmen und sie in ein Gesamtkonzept zu übertragen.
Es ist ein durchdringendes Farb- und Formenspiel was uns erwartet, betrachten wir die Werke Helle Jetzigs. Über die glänzenden Oberflächen hinweg, zieht es uns herein ins Bild und bietet uns neue, visuelle Erfahrungshorizonte und Wahrnehmungsbereiche an. Es scheint als würde sich, trotz vertrauter Motive, eine völlig neue sowie faszinierende Welt vor unseren Augen eröffnen. Surreal und doch harmonisch erscheint uns der scheinbar abstrakte Dialog aus Form und Farbe, den Helle Jetzig aus figurativen Bildausschnitten herausarbeitet und in diversen Formaten auf Holzkästen bannt.
Fotografien, die der Künstler auf vielen Reisen mit seiner Kamera einfängt, bilden die Basis für diese expressiven und gleichermaßen technisch einzigartig gefertigten Arbeiten. Zu neuen Strukturen und freien Kompositionen zusammengesetzt, werden sie der Realität entrückt. Die folgende Malerei dient als gezieltes wie zufälliges Mittel Stimmungen zu schaffen und zugleich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Materials zu experimentieren. Für den Betrachter scheint nur noch schwer zu unterscheiden, was der Realität entnommen und welche Elemente durch die Manipulation des Künstlers geschaffen sind. Die einzelnen Komponenten der Bildfläche verschieben sich ineinander, während die unterschiedlichen Bildebenen gleichzeitig in der Tiefe zusammenzuschmelzen scheinen.
Mit Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert und ihrem künstlerischen Gebrauch entstand zugleich die Rivalität mit der Malerei. Es entwickelte sich ein Wettstreit beider Künste, der darauf ausgelegt war, das jeweils andere Medium in seiner Wirklichkeitsnähe zu übertreffen. Die Fotografen versuchten die Stimmungen, die durch die Malerei transportiert wurden, nachzuahmen indem sie besondere Bildausschnitte, Perspektiven und Beleuchtungsformen wählten. Die Maler hingegen nutzen die perspektivischen und kompositorischen Möglichkeiten der Fotografie sowie den spontan gewählten Bildausschnitt, der ihren Werken den Effekt der unmittelbaren Momentaufnahme verlieh.
Ähnlich wie auch schon viele Künstler des 19. Jahrhunderts nutzt Helle Jetzig die Möglichkeiten der Fotografie, um seinen malerischen Inspirationen und Ideen freien Lauf zu lassen. Keineswegs ist hier ein Konflikt oder Wettstreit beider Medien zu verspüren. Sie gehen vielmehr eine harmonische Verbindung ein, einen einstimmigen Dialog, der auf innovative Weise Spannung und Dynamik in der Bildkonstruktion entstehen lässt.
In der Fotografie scheint dabei die strukturelle Aufgabe zu liegen. Die auf vielen Reisen durch die Metropolen Europas und der USA entstandenen Fotografien dienen als Ausgangsmaterial, als eine Art Werkstoff für die Kunst Helle Jetzigs. In aufwendigen Arbeitsschritten werden einzelne Ausschnitte im Atelier des Künstlers in schwarz-weiß zu Collagen zusammengefügt, übereinandergelegt oder durch Positiv- und Negativverfahren optisch verändert. Nicht zuletzt durch das heute weite Spektrum der digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten sind dem Künstler ganz neue, spannende Mittel zur Beeinflussung der Bildstruktur und Bildkomposition gegeben.
Die kompositorischen Perspektiven und Formen, Schattierungen und Linien, die sich aus den fotografischen Motiven selbst, aber auch durch die Manipulation des Künstlers ergeben, dienen als Grundlage, auf der sich die Malerei voll entfalten kann.
Als Lamda-Print und nicht mehr auf Barytpapier gedruckt, bietet die fotografische Basis auch für die Malerei neue Gestaltungsmöglichkeiten. Während das von Helle Jetzig früher verwendete Papier die Farbe unmittelbar in sich aufnahm, verhindert das neue Material das direkte Einziehen der Farbpigmente und lässt auf diese Weise ein spontanes Verlaufen sowie das Verwischen durch den Künstler zu. Es ergeben sich unerwartete Farbfelder, Ränder und Farbansammlungen, die in den einzelnen Werken spontane Formen, Linien und Flächen erzeugen, welche einen prägnanten formalen Kontrast du den konstruierten Collagen bilden. Primär sind es die Grundfarben Rot, Gelb und Blau, mit denen der Künstler die Fotografien bemalt. Auch hier nutzt er die Möglichkeiten, die das neue Material ihm bietet und lässt die Farben ohne gezielte Vorstellungen ineinander verlaufen. Auch Wiederholung und Variation gehören zu den Stilmitteln Jetzigs. Durch Formen, die der Künstler den jeweiligen Bildausschnitten entnimmt und sie mittels Siebdruck auf die Bildoberfläche projiziert, schafft er eine optische Balance zwischen den einzelnen Bildschichten. Häufig ist hier die Form des Kreises oder Punktes zu finden, die der Künstler mit Koordinaten assoziiert. Sowohl im Siebdruck als auch in den einzelnen Bildcollagen, durch den Wechsel von Positiv und Negativ oder Bildeinschnitte erzeugt, lassen sich auch diese Punkte gedanklich zu weiteren geometrischen Formen verbinden.
Die evidente Faszination für die Möglichkeiten mit Form und Farbe auf der Fläche zu experimentieren ist die Antriebsquelle zur Entstehung dieser farbintensiven, fast pulsierenden Werke. Zugleich finden sich hierin aber auch die grundlegenden Gestaltungselemente, die das künstlerische Medium der Malerei definieren und die deutlich machen, weshalb sich Helle Jetzig selbst vorrangig als Maler sieht.
Die Wahl der fotografischen Motive, bei denen es sich zumeist um unterschiedliche städtische Bauten, Straßenschluchten sowie Plätze handelt, erfolgt rein nach formalen Kriterien. Symmetrien, Diagonalen sowie Horizontalen und geometrische Formen die sich aus Werbeplakaten, Hauswänden, Gebäuden, Straßenschildern oder aus der Anordnung von Personen ergeben, scheinen dabei ausschlaggebend für die Inspiration zu neuen Bildkompositionen.
Als Top View betitelt der Künstler seine neueste Serie. Gleichermaßen wie auch seine Werke diverse Blickrichtungen ermöglichen, lässt auch die Bezeichnung Top View verschiedene Lesarten zu und verweist nicht allein auf die so benannte Werkgruppe, für die Helle Jetzig erstmals die Sicht von oben gewählt hat. Durch die Vogelperspektive wird dem Betrachter ein neues, überraschendes Sichtfeld eröffnet. Menschen, Architekturen und Plätze werden von oben erfasst und verweisen den Betrachter auf diese Weise explizit in die Rolle des Beobachters.
Die Positiv- und Negativkonstruktionen, die in den neuen Werken Helle Jetzigs als immer wiederkehrende Bildelemente zu finden sind, erzeugen zudem ganz neue Beleuchtungseffekte. Wie Scheinwerfer rücken Sie bestimmte Bereiche der Komposition in den Vordergrund und lassen andere im Schatten zurück. Auch in diesen neuen Arbeiten ist es ein ständiger Wechsel aus Form und Farbe, Schatten und Licht, Nähe und Distanz, Oberfläche und Dreidimensionalität, welche die figurativen Grundmotive der Fotografien durch expressiv-abstrakte Farbverläufe in illusionistische Ansichten verwandeln.
Bereits in dem aufwendigen Entstehungsprozess, dem Schicht um Schicht Hinzufügen der einzelnen Bildelemente, von der Fotografie über die Malerei und den Siebdruck hin zur abschließenden Versiegelung mit diversen Lackschichten, liegt ein Großteil des künstlerischen Resultats. Als Ausgangspunkt für seine Kompositionen dient keine vollendete Idee. Vielmehr führt den Künstler der spontane Prozess des Machens zur Vollendung seiner Werke.
Jedoch nicht allein im Spiel von Form und Farbe hält sich die Spannung in den Werken Helle Jetzigs. Auch die daraus resultierende Dualität zwischen Spontaneität und Planung, Wirklichkeit und Illusion, Wahrnehmung und Realität schafft für den Betrachter neue Erfahrungswelten. Ganz im Sinne der Bezeichnung Top View ist es die visuelle Sicht der Dinge, die den Künstler bewegt und die er für den Betrachter in seinen Bildern zu transportieren versucht.
Ausgehend von alltäglichen Stadtansichten entnommenen Motiven, kreiert der Künstler durch das erneute Aufgreifen von Formen und Linien als auch durch den gezielten sowie zufälligen Einsatz von Farbe völlig neue, scheinbar abstrakte Bildwelten, die das Auge des Betrachters immer wieder aufs Neue herausfordern seine Wahrnehmung und die gewohnten Blickwinkel zu überprüfen.
Stephanie Hentschel 2013