Hans – Joachim Müller
Stadtgänger, Bildflaneur
aus: Helle Jetzig, Works 2004-2006, Katalog Galerie von Braunbehrens, München 2006
Unendlicher, endlicher Raum. Rund zweieinhalb Milliarden Menschen sollen in Städten leben, hat man geschätzt, hat man gezählt. Die Zahl wachse und wachse, in zwanzig Jahren sei sie längst doppelt so gross. Städte wuchern an ihren Rändern. Helle Jetzigs Stadtbilder stammen aus den Zentren, wo die Strassen belebt sind und die Plätze auch, aber der endliche Raum nicht unendlich scheint, und das Gedränge und Geschiebe aussieht, als gäbe es für jede Bewegung einen zureichenden Grund, ohne dass man sagen könnte, wer der Autor des Drehbuchs, der Regisseur der Inszenierung wäre.
Es gibt eine vorindustrielle Geschichte der Stadt, und es gibt eine Geschichte der Stadt jenseits demokratischer Gesellschaftsverträge. Aber erst die kapitalistische Moderne hat die Stadt zu jenem Lebensraum gemacht, der die millionenfachen Bedürfnisse und Belange einbindet in ein hocheffizientes Betriebssystem. Wer es steuert, wie es funktioniert? Ewiges Rätsel, ewige Faszination.
Helle Jetzigs Bilder haben sichtlich teil an dieser Faszination. Sie bauen sich gross vor einem auf, gegenständlich nah, unmittelbar. Es ist vor ihnen, als sei ihre glänzende Haut nichts anderes als die Oberfläche der Stadt selber, als seien sie bloss herausgeschnitten aus dem unendlichen, endlichen Raum, als fielen die Mauern der Stadt in eins mit der Wand, an der das Bild hängt. Was diese Bilder zeigen, zeigen sie nicht wie etwas Fernes, Abwesendes, nur in den vermittelnden Zeichen Präsentes. Was sie zeigen, zeigen sie so, dass man dabei ist, mittendrin.
Und doch ist man mittendrin immer an seinem eigenen Platz. Und trotz ihrer sinnlichen Anwesenheit wahren die Bilder auch Abstand, halten einen auf Distanz. Man bleibt Zuschauer, Flaneur, der vor jeder Stadtkulisse zugleich die Schritte sieht, die ihn näher kommen oder zurück treten lassen. Vielleicht ist ja die moderne Ich-Figur erst wirklich geworden, wo sie der bedrängenden Dichte, der überwältigenden Fülle der Stadt gewahr wurde. Vielleicht hat es dieses urbanen Ganzen bedurft, um den Ort markieren zu können, an dem sich der zuschauende Einzelne aus dem umgebenden Ganzen löst. Vielleicht ist Subjektivität nichts anderes als eine Kulturtechnik des Überlebens in der masslosen Masse.
Im öffentlichen Raum Stadt erfährt sich modernes Bewusstsein als Raumbewusstsein – hin- und hergerissen zwischen Funktion und Freiheit, Sicherheit und Ausgeliefertsein, Unermesslichkeit und Enge, monströsem Versprechen und Begrenzung, Orientierung und labyrinthischer Verlorenheit. Es ist eine dynamische Raumerfahrung, in der noch die stabilste, verlässlichste Dimension reine, unberechenbare Energie scheint, und die Selbststeuerung der Kräfte über allen Planungswillen triumphiert.
Aufenthalt in Städten ist für Helle Jetzig nie Halt. Fotografierend überlässt er sich der dynamischen Raumerfahrung. Fotografierend sieht er zu, wie sich seine Bewegungen in den Stadtbildern spiegeln, die sich vor ihm, die sich um ihn herum bewegen. Times Square, Chrysler Building, Empire State Building in New York, Louvre in Paris, Galleria Vittorio Emanuele in Mailand. Touristische Ziele und weniger bekannte Stadtplätze. Hochhauszeilen, Strassen wie Cañons, Brücken, Kreuzungen, Stop and Go, Trucks, Cops, Schaufenster Werbebotschaften, Verkehrszeichen, Strassenschilder, Firmenschilder, Reklameschilder. Aber es kommt nicht auf die Posterqualität des Ortes an. Es geht weder um klischierte Ansichten noch um strenge Distanz zu ihnen. Wenn der Maler fotografiert, fotografiert er nicht für ein Stadtporträt. Er sammelt Motive seiner Stadterfahrung, er sammelt sie zum Aufbewahren, für den eigenen Vorrat. Das ist der erste Arbeitsschritt. Und dass die ungezählten Fotobilder heute im Computer archiviert werden, zeigt nur, dass sie für den nächsten Arbeitsschritt zur Verfügung stehen sollen.
Der nächste Arbeitsschritt ist wie ein Puzzle. Blättern im Album der still gestellten Motive. Entdecken, Erinnern, Hängenbleiben. Zusehen wie das still gestellte Motiv wieder lebendig wird, wie es nach Motiven verlangt, mit denen sich interessante Nachbarschaft pflegen lässt. Nicht alles verträgt sich, nur weil es eine verwandte Stadtherkunft hat. Und nicht jedes Motiv lässt sich übertragen, übersetzen. „One way“ und “Senso unico“ zum Beispiel, aus ihnen wird kein neues Zeichensystem. Wenn Helle Jetzig Stadtmotive auswählt und zusammenstellt, will er die Städte nicht unkenntlich machen, Stadtbilder nicht zerstören
Städte haben ihren Namen. Städte wollen sich unterscheiden. Stadt ist mehr als die Summe ihrer urbanen Funktionen. „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, hat der Stadtgänger in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ beobachtet. Und erkennbar sind die Städte alle, die der Stadtgänger Helle Jetzig besucht. Erkennbar und benennbar. Die breite Front des Louvre etwa, I. M. Peis Pyramide und der Platz über dem unterirdischen Museumsentree, leicht zu identifizieren, als Stadtbild so vertraut, dass man keinerlei Stadtführer braucht, um ganz sicher zu gehen. Nur dass die Kunstanlage auf einmal ganz nah ans Wasser, au bord de la Seine, gerückt ist – und dort haben wir sie bestimmt nicht in Erinnerung. Und merkwürdig: Die Leute vor dem Louvre bräuchten nur die Schuhe auszuziehen, ein paar Schritten zu tun und ständen schon im Fluss, der ohne dicke Ufermauern überwinden zu müssen, einfach in die Tuillerien schwappt. Was ist passiert? Jahrhunderthochwasser? Für einen Katastrophenbericht ist das Bild entschieden zu friedlich. Und es sieht auch nicht so aus, als ob irgendjemand über die Verschiebungen im Stadtraum besonders beunruhigt wäre.
„Wie alle grossen Städte“, beschreibt der Stadtgänger in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ seine Stadt, „bestand sie aus Unregelmässigkeiten, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstössen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem grossen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäss ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.“
Es ist wie eine Programmschrift für Helle Jetzigs Arbeit mit Bildern. In einem Verfahren, das Geschicklichkeit und Geistesgegenwart gleichermassen fordert, werden im Fotolabor die zwei, drei ausgesuchten Stadtmotive derart vergrössert, dass sie auf den riesenhaften Fotopapieren an der Dunkelkammerwand wie horizontale oder vertikale Überblendungen aus zwei, drei Diaprojektoren erscheinen. Das bedeutet geduldige Handarbeit. Durch Abdecken, wischerartige Bewegungen – „Wedeln“, sagt der Künstler – werden in den langen Belichtungsprozessen feine Grauabstufungen erreicht, die die Konturen der Stadtarchitekturen aufweichen und die Formen ineinander fliessen lassen. Wieder ein Arbeitsschritt. Und wenn die Papiere in den grossen Bodenwannen entwickelt und fixiert sind, ist es, als sei „aus Unregelmässigkeiten, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstössen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem grossen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander“ eine Art Bildsumme geworden.
In solchen Bildsummen bildet die Stadt ihr Stadtbild. Und Stadtbilder handeln vom Lebensraum Stadt, der nicht gänzlich aufgeht im Wohn- und Arbeits-, im Verkehrs- und Geschäftsraum Stadt. Und weil der Lebensraum Stadt, das verletzliche Gefüge aus Stadt-Anmutungen, unüberschaubar, undurchschaubar bleibt, drohen auch Stadtbilder immer wieder übersehen zu werden, verloren zu gehen, sich aufzulösen im Strom der Reize, der widersprüchlichen Signale. Was der Stadtgänger wahrnimmt, was er registriert, das ist auch das, woran er vorbei sieht, was unbemerkt bleibt. Zum Stadterlebnis gehört ja die sinnliche Überversorgung, die Konkurrenz der Impulse und Induktionen, der Kampf der Botschaften um Aufmerksamkeit und Gewöhnung, die Ununterscheidbarkeit von auffälliger Gebärde und unauffälligem Klischee, die duldsame Nachbarschaft von Banalem und Bedeutsamem. Und so erscheint in der Polychromie der Stadtbilder an den Stadtwänden des Stadtraums das Leben vollends ästhetisiert. Und es ist, als sei kein Stahl stählern genug, kein Beton fest genug, um nicht vom totalen Schein transzendiert zu werden, der Stadt heisst.
Es braucht immer eine ganze Weile, bis man die Collagestruktur der Bilder entdeckt. Auf den ersten Blick hin fallen an der integralen Stadtsensation keine Bauplanfehler auf. Die Dinge sind mit grosser Raffinesse und Delikatesse gefügt, formal ausbalanciert. Und die Harmonie, die die überblendeten Elemente im malerischen Fond bilden, lässt keinen Gedanken an logische Fallen und Gefährdungen aufkommen.
Der nächste Arbeitschritt, vielleicht der Hauptschritt: Helle Jetzig ist vor allem – Maler. Er hat mit dem Staunen und dem Stolz des Alchemisten seine eigenen Farben entwickelt. Und er hat über Staunen und Stolz hinaus gelernt, aus der optischen Mischung der durchsichtig aufgetragenen Grundfarben feinste koloristische Valeurs zu gewinnen. Wenn sich die Bildtafeln mit dem Schwarzweiss der Vorlagen begnügten, käme man den inhaltlichen Unstimmigkeiten der erzählten Stadtgeschichten viel schneller auf die Schliche. Malend schafft Helle Jetzig Räume und Atmosphäre. Mit der Farbe verkürzt und weitet er Proportionen, vertieft er Einschnitte, öffnet er Prospekte, rückt hier in den Vordergrund, drängt dort zurück, mit der Farbe schichtet der Maler aus Kulissenteilen Bühnenbilder. Und immer ist die Farbe auch der Anmutungsschleier, hinter dem das urbane Alltagsdesign verlockt, hinter dem sich der Stadtanstrich mit dem Signalement der Werbung vermischt, die Häuserschatten im Beat der stroboskopartig zerschnittenen Himmelsausschnitte tanzen, und noch der Strassenlärm, den man zu hören meint, seine Diskofarbe bekommt.
Stadt, Integrationsmodell modernen Lebens. Im selben Masse, in dem diese Bilder den zergliedernden, aufdeckenden Blick verlangen, verführen sie zum grossen synästhetischen Erlebnis. Und wenn auch das Pathos des Flaneurs einen Abstand zu den Stadtdingen behaupten möchte, ist Stadt doch, was Fremdheit nicht eigentlich duldet, ist Stadt der Ort, wo die Distanzen und Differenzen von den Suggestionen nicht zu trennen sind.
Als Bildgattung erfüllen Helle Jetzigs Tafeln den Tatbestand des Capriccios. Lange bevor der Begriff in der Musikterminologie zur Kennzeichnung heiterer, freistiliger, nicht selten parodistischer Kompositionsformen gebräuchlich wurde, galt als Capriccio die malerische Kombination von Architekturen, die nichts miteinander zu tun haben, die in Wirklichkeit aus allen möglichen Stilen und Epochen stammen. Anders als die Vedute, die sich an getreue Wiedergabe zu halten hatte, durfte sich das Capriccio den freien Phantasien überlassen. Aber die Kunstgeschichte hat, was da am Ende des 16. Jahrhunderts als Bildform entstand und im 18. Jahrhundert gross in Mode kommen sollte, immer auch ein wenig verkannt. Es geht nicht nur um Lust und Laune. Die eigentliche Intelligenz des Architektur- und Landschaftscapriccios liegt genau besehen in der modernen Zitiertechnik, im hierarchielosen Umgang mit dem historischen Material.
Es ist gerade nicht Zufall, nicht lässiges Akzidens, was die Dinge aus ihren chronologischen Anordnungen reisst und sie von ihren Rangplätzen vertreibt und sich an keine Würdeskala mehr gebunden fühlt. Capriccio ist im Gegenteil ein Zeichen von Bewusstheit, der alle Bindungen verloren gegangen sind. Und wenn das kapriziöse Bewusstsein die heterogenen Dinge neu verbindet, neu verknüpft, dann nicht in der Machtlaune des Spielers, der über das Spiel gebietet, indem er die Spielregeln immer neu bestimmt, sondern aus dem Blickwinkel eines aufgeklärten Sehens, das genau weiss, dass kein Bedeutungszusammenhang mehr den Dingen vorgegeben ist, dass alle Bedeutungszusammenhänge erst in komplexen Seh- und Erkenntnisleistungen erzeugt werden müssen.
Helle Jetzigs moderne Capriccios setzen solche komplexen Seh- und Erkenntnisleistungen voraus. Man kann es sich, darf es sich auch einfach machen. Niemand verbietet das Vergnügen, dabei zuzusehen, wie die Seine-Zunge zum Louvre hoch leckt. Aber erst der konstruierende Sehumgang mit diesen Bildern rekonstruiert auch all die Arbeitsschritte, aus denen die Bilder Schicht um Schicht gebaut sind. Die Art und Weise, wie das Lokalspezifische zum Topos verallgemeinert wird, das identifizierbare Gebäude, die bekannte Strasse, der namhafte Werbeauftritt im malerischen Bild von Stadt schlechthin aufgehen, könnte ja auch dazu verführen, die Tafeln als Lehrstücke misszuverstehen. Aber ihre Bedeutung liegt nicht im Symbolischen. Helle Jetzig ist es weder um Kritik noch um Feier des überwältigenden Lebensraums Stadt zu tun. Der Künstler destilliert keine Lebensbilder, er führt seine comédie humaine métropolitaine viel zu leidenschaftslos vor, um mit ihr agitieren zu wollen.
Es geht nicht um Wahrhaben, es geht um Wahrnehmen. Dazu stiften die Bilder an. Und die verwickelten handwerklichen Schritte, in denen sie entstehen, entsprechen der Verwickeltheit des Sehens und wären vertan, wenn man sie nur als Technik beschriebe. Zum Schluss appliziert der Künstler aus Architekturteilen oder Schildern gewonnene Muster im Siebdruckverfahren auf die Bilder – vor allem an Nahtstellen oder neuralgischen Punkten der Komposition, und dann wird lackiert und geschliffen und wieder lackiert und wieder geschliffen. Und wenn die Tafeln ganz versiegelt erscheinen, dann ist es, wie wenn einer am Schaufenster vorbeikommt und sieht in die Auslage und sieht in der Scheibe zugleich sich, wie er in die Auslage sieht, und sieht, was sich spiegelt in der Scheibe – Strasse, Passanten, Verkehr, die Reklame von der anderen Strassenseite – und kann nicht unterscheiden, was im Schaufenster und was vor dem Schaufenster ist und wo er steht zwischen den Bildern, die sich mischen, verschieben, überblenden, und es ist ihm, als sässe er im Kino und aus lauter Projektionsöffnungen ringsum strahlten die Lichttrichter auf die Leinwand.
Bilder sind wie Spiegel, die nicht nur zeigen, was einer sieht, der in den Spiegel blickt. Bilder sind wie Spiegel, die immer auch die anderen Bilder spiegeln, die Bilder, die um ihn sind, wenn einer ihn den Spiegel blickt. „In tausend Augen, tausend Objekten spiegelt sich die Stadt“, hat Walter Benjamin in Paris notiert. „Paris ist die Spiegelstadt: Spiegelglatt der Asphalt seiner Autostrassen. Vor allen Bistros gläserne Verschläge: die Frauen sehen sich hier noch mehr als anderswo. Aus diesen Spiegeln ist die Schönheit der Pariserin getreten. Bevor der Mann sie erblickt, haben sie schon zehn Spiegel geprüft.“
Zehn Spiegel, also viel mehr als nur drei Dimensionen. Davon erzählen Helle Jetzigs Bilder: von der Stadt als Ort und der Stadt als Wort, einem anderen Wort für die sich dimensionslos spiegelnde Phantasie. Und wir davor und mittendrin und wunderbar gehalten, wunderbar verloren im endlichen, unendlichen Raum.