Regina Böker
Wahrnehmung und Wirklichkeit
in: Helle Jetzig – Wahrnehmung und Wirklichkeit, Katalog Galerie von Braunbehrens und Galerie Barbara von Stechow, München 2009
Der eine schwärmt vom grandiosen Ausblick auf das Meer, der andere sieht den Schmutz am Strand. Es ist immer wieder erstaunlich, wie gegensätzlich Personen vom gleichen Ereignis oder über die gleiche Situation berichten und doch jeder von der Richtigkeit seiner Version überzeugt ist. Nach einem Unfall mit Fahrerflucht kann es vorkommen, dass die Beschreibung des Fluchtautos vom weißen Alpha bis zum schwarzen Volvo reicht. Mein Bruder behauptete als Kind, dass der Farmer in der schwarzweißen Lassie-Serie ein blaues Auto fährt. Bei Regenwetter kann auch eine prachtvolle Allee ziemlich trist erscheinen. Der Kurzsichtige wird sicherlich den Stadtspaziergang ganz anders wahrnehmen als der mit dem Adlerauge, und beiden ist die eigene Sehweise so selbstverständlich und vertraut, dass ihnen die daraus resultierende unterschiedliche Lebenswirklichkeit nur selten bewusst wird. Sehen als sinnliche Wahrnehmung wird bestimmt durch das Auge und das Gehirn, das die gelieferten Informationen verarbeitet. Ein Vorgang, der außerdem von individuellen Erwartungen, Gewohnheiten, Befindlichkeiten, Fantasien und allen möglichen äußeren Bedingungen beeinflusst wird. Wahrnehmung kann nicht objektiv sein. Kein Wunder, dass demzufolge auch die Beurteilung der Wirklichkeit unterschiedlich ausfallen muss.
Helle Jetzig geht der Frage nach Wahrnehmung und Realität mit künstlerischen Mitteln nach, indem er in und mit seinen Bildern ein Spiel verschiedener Realitäten inszeniert. Dieses Spiel bezieht sich nicht nur auf das Dargestellte, zumeist Großstadtszenen, sondern schließt auch die verschiedenen Materialien und Medien, die verschiedenen Arbeits- und Entstehungsphasen sowie die Wirkung auf die Betrachter mit ein. Helle Jetzig ist mit seiner Kunst zu einer ureigenen Ausdrucksweise gelangt, in der Inhalt, Form und die Tätigkeit des Bilderherstellens selbst eine Synthese bilden.
Er stellt verführerisch schöne Bilder her, die ihre widersprüchliche Wirkung aus einer kompositorischen Geschlossenheit einerseits und einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Eindrücke andererseits beziehen. Im Spiel der Realitäten konkurrieren verschiedene Bildebenen um Aufmerksamkeit. Sie laden ein zum reinen Sehgenuss und lassen nach und nach immer neue Einzelheiten und überraschende Wirkungen entdecken. In „Big City K 3“ können das beispielsweise dynamisch aufwärts führende Linien, unterschiedliche Perspektiven, auf einer Werbefläche ein Soldat mit Maschinengewehr, die burgähnliche Metropolis, die sich vor einem gewittergrauen drohenden Himmel auftürmt, oder der Hinweispfeil auf das im Licht strahlende Tor des Paramount-Filmtheaters sein, während in „Big City K 2“ der Dreiklang der Schilder Mexicali, Broadway, One Way, der hüpfenden Sombreros, der unterschiedlichen Stadtaufnahmen in unterschiedlichen Größenverhältnissen oder die Farbkomposition aus Gelb, Rot und Grün miteinander wettstreiten. Aber auch Details, wie das an die Hauswand gelehnte Fahrrad, oder die graphischen Strukturen, die sich von kleinteilig dicht über breite Balken in mehreren Schritten auflösen in eine einfarbige Fläche, ziehen die Blicke auf sich. Und schließlich hat auch noch die glänzende lackierte Bildoberfläche ihre ganz eigene spiegelnde Anmutung.
Das Phänomen der vielen Bildebenen ist der besonderen Arbeitsweise des Künstlers geschuldet. In erster Linie versteht er sich als Maler, was seine Bilder auch deutlich verraten. Hier geht einer in die Vollen, der absolutes Vergnügen an leckerer Malerei hat, an Farben, die leuchten, pulsieren, einen anspringen. Nur mit Gelb, Rot und Blau in unterschiedlichen Verdünnungen erzeugt er ein vielfarbiges Rauschen, Rhythmus, Glühen, Licht und Tiefe. Es ist eine wilde und völlig gegenstandsfreie Malerei, mit breitem Pinsel, nass in Nass und Schicht auf Schicht. Ungezügelt überlässt der Maler sich ganz dem Augenblick, der spontanen Reaktion. Auch wenn Helle Jetzig die Fotografie dabei wie eine Skizze verwendet, ist die Malerei doch im mehrfachen Sinne unabhängig vom Dargestellten. Sie orientiert sich zwar an Strukturen der Fotovorlagen, ignoriert aber den Gegenstand völlig. Helle Jetzig koloriert nicht ein Haus, ein Schild, ein Auto. Mit seiner Malerei hebt er die Grenzen der Gegenstände auf, gewichtet ganze Bildbereiche neu, lässt Räume und Flächen entstehen, lässt vor- und zurücktreten, setzt Lichter, schafft eine ganz neue Komposition mit Farben, die außerdem der natürlichen Farbigkeit in keiner Weise entsprechen. Die Malerei beansprucht ihre eigene Realität, als Farbe an sich wie auch als Komposition, und überführt gleichzeitig das ganze Bild in eine neue. Sie hat durch ihre Transparenz eine integrierende Funktion, die dafür sorgt, dass trotz der widersprüchlichen Wahrnehmungen ein harmonischer Gesamteindruck entsteht.
Die Fotografie, bei Helle Jetzig immer schwarzweiß und auf klassischem Barytpapier, wird in der Regel vom Betrachter zuerst wahrgenommen. Sehgewohnheiten verleiten dazu, Erkenntnis und Bedeutung in den Aufnahmen aus New York, Paris und anderen Metropolen zu suchen. Und tatsächlich lassen sich die Städte zumeist leicht identifizieren. Doch gleichzeitig verweisen die Bilder auch auf einen hintergründigen Manipulationsprozess und schon beginnt das Verwirrspiel um Wahrnehmung und Realität.
Fotografie ist letztlich alles andere als eine objektive Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie ist vielmehr ein Abstraktionsprozess, der sich schon aus der Reduzierung der Farben auf Schwarz, Weiß und die Grautöne ergibt. Außerdem „sieht“ die Fotografie in jedem Falle anders als das menschliche Auge. So lassen sich beispielsweise weit entfernte und nahe Motive auf eine Ebene zoomen, bestimmen neben der Wahl des Objektivs aber auch Lichtverhältnisse oder der Standort des Fotografen darüber, welcher Ausschnitt der Wirklichkeit in welcher Perspektive und Räumlichkeit wahrgenommen werden kann oder in welchem Verhältnis Objekte zueinander stehen. Durch die Fotografie werden Szenen zudem physisch und zeitlich festgeschrieben. Jede Fotografie ist ein erstarrter Moment der Wirklichkeit, auf der wir Details wahrnehmen können, die unser Gehirn in dem Bruchteil einer Sekunde, die zur Entstehung des Fotos nötig war, nicht registrieren kann. Ein Mensch hinter einer Fensterscheibe, Straßenschilder, ein vorbeieilender Passant, eine Uhr, die Auslagen im Schaufenster, jede Kleinigkeit, die der Zufall eingefangen hat.
Helle Jetzig treibt sein Spiel mit der Wirklichkeit aber noch weiter, indem er entweder, wie in den beiden „Big City“ Bildern, verschiedene Motive so schlüssig miteinander kombiniert, dass die Montage erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bewusst wird, oder einen Ausschnitt verwendet, der von sich aus schon unterschiedliche Bildebenen enthält, wie in „Composition 20-1“ die Häuserfassade und die Plakatwerbung, die einen Boxer zeigt. Die einmalige Glitzerwelt des Times Square in New York hat Helle Jetzig zu diesen Ausschnitt-Bildern inspiriert. Dort, wo sich Broadway und Seventh Avenue treffen, erstreckt sich von West 42nd bis West 47th Street ein Konglomerat aus Theatern, Kinos, Cafes, Restaurants, Andenkenläden, Geschäften, Büros und Hochhäusern. Der hektischen Betriebsamkeit der Massen von Passanten, der Autos, Taxis und Touristenbusse entsprechen in der Höhe Bildschirme, Leuchtreklamen, Laufbänder, Werbetafeln. Blinkende, leuchtende, farbige und ständig wechselnde visuelle Botschaften, ein Patchwork aus Einzelbildern, das von Sekunde zu Sekunde sein Muster wechselt und sich neu zusammensetzt.
(Nicht nur) wegen dieses immanenten Collage-Prinzips übt der Times Square auf den Künstler seinen Reiz aus. Ihn fasziniert die Möglichkeit, die spätere Bildkomposition durch die Wahl des Ausschnitts schon beim Fotografieren festlegen zu können. Einleuchtend, dass er eine ganze Serie von Bildern daraufhin „Composition“ nennt. Wobei dieser Titel durchaus mehrdeutig zu verstehen ist, denn Helle Jetzig verändert die Kompositionen der Fotografie durch Malerei und Siebdruck derart, dass durch Varianten auf gleichen Motiven immer neue „Composition“ entstehen.
Doch davon abgesehen interessiert ihn für seine Arbeit hauptsächlich der Hyperrealismus der überdimensionalen Werbeflächen, die man am Times Square natürlich geballt findet, die aber auch sonst in großen Städten überall anzutreffen sind. Sie verändern die Realität der Städte durch ihre augenfällige Präsenz und, durch ihre Übersteigerung, sowohl in der Größe als auch in ihrer Darstellung, zum Beispiel von Schönheit, letztlich auch die Wahrnehmung von dem, was real ist. Indem der Hyperrealismus in der Werbung die Schönheit des Dargestellten als real ausgibt und durch die Überhöhung des Realen das eigentliche Anliegen, nämlich den Verkauf des Produktes, zu verschleiern sucht, nimmt er Einfluss auf die Wahrnehmung von Realität. Dies ist ein Aspekt, der in den Bildern von Helle Jetzig offenbar wird. Das schöne Model, das sich über eine ganze Häuserfront erstreckt, erscheint realer als die wirklichen Menschen auf den Straßen. Während die einen klein und anonym bleiben, besticht die andere durch ihre imposante Vitalität. Bild und Wirklichkeit sind in der Wahrnehmung identisch geworden, das Bild wird nicht länger als (Ideal-)Bild der Frau gesehen, sondern als Frau selbst.
Eine weitere Bildebene in den Arbeiten von Helle Jetzig ist der Siebdruck. Er benutzt dazu fotografische Motive, die im Druck ihre Grauwertigkeit verlieren bzw. durch die Auflösung in druckende und nicht druckende Bereiche eine grafische Reduzierung erfahren und abstrakter werden. Daher ist der Siebdruck der Sombreros in „Big City K 2“ nicht eigentlich das Abbild eines Kopfes mit Sombrero, sondern ein schablonenhaftes Zeichen dafür. Diese Zeichen sind nicht nur eine zusätzliche Realitätsebene, sie erfüllen vor allen Dingen eine wichtige Funktion für die Bildkomposition. So betonen die drei Sombreros den Dreiklang des Bildes, während der grüne Siebdruck, ein Straßenmast mit „End“-Schild, grafisch den linken Bildteil mit dem Rest verklammert, indem er sowohl die kleinteilige Struktur aufgreift als auch auf den rechten Mast Bezug nimmt. Gleichzeitig vervollständigen die Siebdrucke die Gewichtung des Rot-Grün-Verhältnisses im Bild.
Am Ende einer Vielzahl von Arbeitsschritten, die jeweils einer Entstehungsphase der Werke entsprechen – von ausgedehnten Fotoreisen als Motivsuche, Filmentwicklung, Archivierung, Sichtung des Fotomaterials, Entwürfen, über die Montage und Entwicklung im eigenen Fotolabor, Aufziehen auf Holzuntergründe, bis hin zu Malerei und Siebdruck – erfahren die Bilder zusätzlich eine künstlerische Verfremdung, die aus vielen, immer wieder geschliffenen Lackschichten resultiert. So entstehen die für Helle Jetzig typischen hochglänzenden Arbeiten. Da der Künstler die Lackschichten mit dem Pinsel aufträgt und vermalt, ist die Fläche jedoch nie ganz glatt, so dass auf der leicht welligen Oberfläche Lichtreflexe und Spiegelungen nicht einfach zurückgeworfen, sondern quasi als neue Realitätsebene integriert werden. Es entsteht ein Austausch zwischen den Arbeiten und ihrer jeweiligen Umgebung, sie verändern sich je nach Gegenüber, Tageszeit und Lichtverhältnissen.
Zusätzlich verstärkt der Lack die eigenartige Magie der Bilder. Indem er sie konserviert wie der Bernstein das vorzeitliche Insekt, betont er ihre widersprüchliche Existenz. Sie wirken hermetisch verschlossen und doch kann der Betrachter in sie hineinsehen, in ihre Tiefe geradezu versinken. Er blickt in surreale Traumwelten, in zeitlich und räumlich distanzierte Welten von Großstädten, von Bildern, von Menschen. Die Welten von Helle Jetzig erscheinen ihm dabei vertraut und fremd zugleich, und so real wie unwirklich.